Die Literaturwissenschaftlerin



Ich habe 1990 bis ca. 2000 mein Leben als Literaturwissenschaftlerin genossen: keine Studienordnung schrieb vor, worüber und wie ich lehren sollte. Ich forschte zu den Themen, zu denen ich gerade Lust hatte. Lust hatte ich auf Autoren und Fragestellungen, zu denen wenig bis gar keine wissenschaftlichen Texte existierten: für mich stand das Selbstdenken im Zentrum, nicht das Wiederkäuen der Gedanken anderer (genannt Sekundärliteratur). 

Ich habe Konferenzen und Tagungen ausschließlich nach dem Lustprinzip ausgesucht: wo möchte ich hinreisen und nehmen dort angenehme Menschen teil? Ich bereue es keine Sekunde, so gehandelt zu haben – denn meine Vorgehensweise bescherte mir Beziehungen zu echten Menschen und Reisen an spannende Orte (z.B. 1994 eine Ukraine-Rundreise zum 100. Geburtstag von Joseph Roth).

 

Und so hat es angefangen

Im Oktober 1980 begann ich in Bielefeld mit dem Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte (und da noch ein drittes Fach zwingend vorgeschrieben war, Germanistik). Zu Beginn der 80er-Jahre Literatur und Geschichte zu studieren bedeutete, sich für oder gegen Mode-Theorien und Geisteshaltungen positionieren zu müssen: während in der Literaturwissenschaft fleißig de-konstruiert und der Poststrukturalismus ausgerufen wurde, begann an der Fakultät für Soziologie die Zeit der Systemtheorie mit konstruktivistischen und strukturalistischen Ansätzen – und in der Geschichtsfakultät die »Bielefelder Orthodoxie« mit strukturalistischem Ansatz. Von der angeblichen »Interdisziplinarität« der Universität war nicht mehr viel zu spüren, vielmehr grenzten sich die Professoren (fast nur Männer  …) deutlich gegeneinander ab.

Die Uni verzichtete 1985 auf feierliche Verabschiedung der Absolventen (so ein Ritual sei doch heutzutage überhaupt nicht mehr zeitgemäß und zu amerikanisch …) – ich verzichtete aus Zorn über diesen Mangel an Wertschätzung auf das Abholen meines Magisterdiploms – und aus „finanziellen Gründen“ auf dessen Zustellung per Post.

Eher durch Zufall kam ich dann 1990 zurück zur Literaturwissenschaft. Ich wollte mich bewerben, benötigte meine Magisterurkunde und betrat nach 5 Jahren zum ersten Mal wieder die Universität – traf eine Bekannte, die jemanden suchte, der sofort ihre Stelle übernehmen könnte – und zwei Tage später hatte ich einen Arbeitsvertrag als wissenschaftliche Hilfskraft, wenig später als wissenschaftliche Mitarbeiterin. So kam ich durch Zufall zu Lehre und Forschung.

In nur wenigen Jahren habe ich knapp 30 Aufsätze veröffentlicht, 4 Sammelbände und eine komplette Werkausgabe herausgegeben, an ca. 25 Tagungen weltweit teilgenommen, eine Tagung selbst organisiert, über 30 Lehrveranstaltungen zu immer verschiedenen Themen konzipiert und durchgeführt, 2 Exkursionen nach Wien mit Studierenden unternommen und etliche Abschlussarbeiten betreut – kurz: ich war produktiver als mancher Lehrstuhlinhaber.